Eine aktuelle Studie, veröffentlicht in Organizational Behavior and Human Decision Processes, zeigt eine Analyse der Fluktationsgründe. Auf Basis von drei methodisch unterschiedlichen Studien mit quantitativen und qualitativen Daten wird deutlich, dass Mitarbeitende nicht nur vor Problemen fliehen, sondern auch gezielt neue Chancen suchen – und das oft gleichzeitig.

Die zentrale Fragestellung lautete:

Überwiegen bei freiwilliger Fluktuation vermeidungsorientierte Fluktationssgründe – wie Stress oder Probleme mit der Führung – gegenüber ansatzorientierten Motiven wie Karrierechancen oder Entwicklungsmöglichkeiten?

Der theoretische Rahmen: Annäherung und Vermeidung

Im Zentrum der Studie steht das Konzept der Annäherungs- und Vermeidungsorientierung. Während vermeidungsorientierte Motive darauf abzielen, negative Zustände oder Erfahrungen zu reduzieren oder zu vermeiden (z. B. Stress, Konflikte mit Vorgesetzten), beziehen sich annäherungsorientierte Motive auf das Streben nach positiven Zielen (z. B. Entwicklungsmöglichkeiten, neue Herausforderungen).

Diese Unterscheidung bietet eine fundierte Grundlage zur Analyse von Kündigungsgründen und erlaubt es, über eindimensionale Erklärungsansätze hinauszugehen.

Drei Studien – differenziertes Bild über Fluktationsgründe

StudieMethodeStichprobeKernergebnisse
1Systematische Literaturrecherche78 StudienStress durch Überlastung am häufigsten genannt; Chefprobleme zentral, aber nicht dominant
2Online-BefragungN = 197Durchschnittlich 3–4 Gründe pro Person; Annäherung und Vermeidung gleich häufig; Chefprobleme auf Platz 3
3Analyse von Exit-InterviewsN = 312Durchschnittlich 4 Gründe; Annäherungsgründe häufiger als Vermeidungsgründe; Chefprobleme auf Platz 3

🧠 Die wichtigsten Erkenntnisse – in Zahlen und Aussagen über die Fluktationsgründe

  • Stress durch Arbeitsüberlastung war in allen drei Studien ein zentraler Kündigungsgrund – insbesondere in anonymer Datenerhebung (Studie 1).
  • Führungsverhalten belegten in allen Studien Platz 3, oft in Kombination mit Stress und Kollegenkonflikten. In Online-Bewertungen waren sie besonders prominent.
  • Mitarbeitende gaben im Schnitt 3–4 Gründe für ihre Kündigung an (Studien 2 & 3).
  • In Studie 2 berichteten Beschäftigte, dass sie etwa 75 % ihrer tatsächlichen Gründe im Exit-Gespräch offenlegten. Probleme mit Führungskräften wurden dabei eher zurückgehalten.
  • Karrierechancen und Entwicklungsmöglichkeiten wurden in allen Studien als häufige annäherungsorientierte Gründe genannt – zum Teil wichtiger als Vermeidungsgründe.
  • In Studie 3 zeigte eine latente Klassenanalyse: Es gibt „Annäherungs-Leaver“, „Vermeidungs-Leaver“ und „Family-Leaver“ mit klar unterscheidbaren Motivprofilen.

Die Fluktationsgründe und Motive

  • Ein genauerer Blick auf die inhaltlich häufigsten Fluktuationsgründe zeigt, wie vielfältig die Motivlagen der Beschäftigten sind. Ansatzorientierte Gründe standen in vielen Fällen im Vordergrund – allen voran der Wunsch nach einem attraktiveren Jobangebot („Attraction to other jobs“) und Karriere- oder Entwicklungsmöglichkeiten. Auch bessere Aufgabeninhalte im Unternehmen und das Streben nach besserer Bezahlung wurden häufig genannt. Auf der Seite der vermeidungsorientierten Gründe rangierten insbesondere der Wunsch nach weniger Stress, Probleme mit direkten Vorgesetzten, Kollegenkonflikte sowie Unzufriedenheit mit Arbeitszeiten unter den häufigeren Motiven. Auch Beschwerden über das obere Management wurden wiederholt genannt. Interessanterweise zeigten einige Motive, wie der Wunsch nach einem Lebens- oder Karrierewandel oder familiär bedingte Umzüge, negative Korrelationen mit den zentralen Variablen, was auf sehr individuelle Entscheidungsgründe hinweist. Die Ergebnisse machen deutlich: Kündigungen sind selten monokausal – sie spiegeln ein Wechselspiel aus belastenden Faktoren und attraktiven Alternativen wider. Unternehmen sollten dieses Zusammenspiel ernst nehmen und sowohl auf der Entlastungs- als auch auf der Entwicklungsebene gezielt ansetzen.
  • Unzufriedenheit mit der Führungskraft ist zu simpel. Chefprobleme spielen eine Rolle – aber sie sind selten der einzige oder häufigste Grund für eine Kündigung.
  • Fluktuation ist meist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch: Stress und Führungskonflikte auf der einen Seite, Karriereaussichten und Entwicklung auf der anderen.
  • Der Erhebungskontext beeinflusst die Nennung der Gründe: In anonymen Umfragen dominieren Vermeidungsgründe, in offiziellen Exit-Interviews eher positive Narrative.

Handlungsempfehlungen zur Fluktationsvermeidung für Unternehmen

  1. Stressprävention ernst nehmen – Arbeitsüberlastung ist ein Hauptgrund für Kündigungen.
  2. Führungskultur entwickeln, aber nicht als alleinigen Hebel betrachten.
  3. Attraktive Karrierepfade anbieten – sie wirken nicht nur bindend, sondern ziehen auch aktiv Talente an.
  4. Datensensibilität bei Exit-Gesprächen: Vertraulichkeit kann helfen, ehrlichere Einblicke zu erhalten.
  5. Unterschiedliche Datentypen kombinieren: Anonyme Feedbacks (z. B. aus Kununu, Glassdoor etc.) und strukturierte Gespräche ergänzen sich sinnvoll.

📘 Während vermeidungsorientierte Fluktationsgründe wie chronischer Stress, Überlastung oder Konflikte mit der Führungsebene oft eine akute Belastung darstellen, die Beschäftigte „wegtreiben“, sind ansatzorientierte Motive eher zukunftsgerichtet und spiegeln das Streben nach Weiterentwicklung, Sinn oder Aufstieg wider – sie „ziehen“ Mitarbeitende zu neuen Möglichkeiten hin. Die Studien zeigen, dass diese beiden Motivlagen nicht als Gegensätze verstanden werden sollten, sondern häufig gemeinsam auftreten: Viele Mitarbeitende verlassen das Unternehmen nicht nur, weil sie unter Druck stehen oder unzufrieden sind, sondern auch, weil sie anderswo bessere Perspektiven sehen. In den Daten wird deutlich, dass insbesondere Karrierechancen und Entwicklungsmöglichkeiten wiederholt als ebenso oder sogar stärker gewichtet genannt wurden wie vermeidungsbasierte Gründe. Dieses Zusammenspiel legt nahe: Eine erfolgreiche Retention-Strategie muss nicht nur auf Problemlösung setzen, sondern aktiv Potenziale aufzeigen und individuelle Entwicklungswege ermöglichen. Mitarbeitende verlassen Organisationen aus einer Vielzahl von Gründen. Wer nur auf die Führungskraft schaut, verkennt die strategische Tiefe der Kündigungsentscheidung. Für eine wirksame Mitarbeiterbindung braucht es Maßnahmen, die Belastungen verringern, aber auch echte Perspektiven bieten.

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